hallo Johannes,
eine Sache, die mich an dem Hobby fasziniert, ist, dass man aus der Retrospektive viele Dinge neu bewerten kann, weil man bestimmten Zwängen und Dogmen nicht mehr unterliegt.
Ein Beispiel für das, was ich meine - der Golf II galt damals als der sicherste Kompaktwagen in Deutschland, und die Motorpresse wurde nicht müde, dies herauszustellen, wenn der Wagen mal wieder wegen seines miesen Preis-/Leistungsverhältnisses in die Kritik kam. Schon damals standen aber die real erlebten Unfälle mit dem Golf II in krassem Widerspruch zu dem, was in AMS und Co. verbreitet wurde.
Viele Jahre nach Produktionsende des Golf II hat man, ich glaube beim ADAC, einen Golf II mit einem Käfer 1303 crashen lassen, dabei ist das erstaunliche Ergebnis herausgekommen, dass einerseits beide Autos nicht gut abgeschnitten haben, und andererseits der Golf II noch schlechtere Crashwerte hatte als der Käfer, den schon zu Bauzeiten niemand für sicher gehalten hat.
Ähnlich ist es auch, wenn man an alte Radio- Phono- und HiFi-Geräte mit anderen Massstäben herangeht, als mit gängigen Normen und Vorstellungen. Wenn man sich mal von allen Dogmen frei macht, und unvoreingenommen an die Sachen rangeht, kann man viele Überraschungen erleben. Auch hierzu ein Beispiel:
Ich habe mich eine Zeit lang mit dem Thema Quadrofonie beschäftigt. Von den deutschen Herstellern gab es nur von zweien komplette aufeinander abgestimmte Anlagen zur Widergabe der gängigen Quadronormen - von Braun und von Dual. Die Braun Anlage kostete in der größten Ausbaustufe um 15000 DM, und war vom technischen und gestalterischen Aufwand Spitze. Die Dual-Anlage kostete in der größten Variante nur gut ein Drittel, und ist sehr viel einfacher ausgeführt. Niemand wäre 1974 auf die Idee gekommen, die Dual Anlage auf Augenhöhe mit dem Braun System zu testen. Wenn man aber heute die beiden Systeme im Vergleich hört, spielt die Dual Anlage das Traumsystem von Braun derart an die Wand, dass man schon fast Mitleid bekommt. Man kann durch simples Lesen der Servicemappen sogar technisch begründen, wieso das Dual System trotz des geringeren Aufwandes so viel besser klingt.
Wenn ich das Ganze mal auf die Röhrenradio-Ära projiziere - was ist denn HiFi ? HiFi bedeutet wörtlich "hohe Treue", womit gemeint ist, die Tonkonserve so originalgetreu wie möglich wiederzugeben. HiFi bedeutet nicht stereo, und HiFi definiert nicht, aus welchen Geräten der naturtreue Klang zu kommen hat. Der Begriff HiFi ist erst um 1965 durch die HiFi-Norm DIN 45500 zum Qualitätsstandard geworden - das Bestreben, die Wiedergabetreue zu optimieren, gibt es aber schon, seit der Phonograf erfunden wurde. Die meisten HiFi-Fans tun sich aber mit dem Ändern der Denkrichtung genauso schwer wie die meisten Radiofreunde. HiFi ist nur dann HiFi, wenn es auch stereo ist, und wenn die Geräte in Form einer "Kette" aus Komponenten auf dem Schrank stehen. Ein schnödes Radio ist selbst dann kein HiFi, wenn es die Kette klanglich schlägt. Ähnlich ist es mit der technischen Entwicklung der letzten zehn Jahre, und den daraus entstandenen neuen Gerätearten. Wenn heute ein Smartphone mit zwei schmalen Bluetooth Aktivboxen besser klingt als eine fette Komponentenkette aus den siebzigern, dann sehen dies echte HiFi-Fans nicht als Fortschritt, sondern haben damit Probleme, weil sowas nicht in ihre Schublade passt - genau, wie es nicht in ihre Schublade passt, dass z.B. ein Philips Capella 753 ein vollwertiges ernst zu nehmendes HiFi-Gerät ist.
Ich finde, es macht riesigen Spaß, immer wieder was neues kennenzulernen, und die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Das geht aber nur, wenn man sich mal völlig frei macht von Vorurteilen und Schubladendenken. Momentan bin ich halt gerade dabei, mich dafür zu interessieren, was es an HiFi-Aktivitäten in der Zeit vor der Stereoanlage gegeben hat, und die Diskrepanz zwischen Radio/Verstärker/Lautsprecher und der Phonotechnik in den meisten Spitzenmusiktruhen ist eines der Dinge, die ich nicht wirklich verstehe, ebenso, wie es mir ein Rätsel ist, wieso die deutschen Hersteller niemals etwas mehr für ihren Nimbus getan haben - die Japaner haben einfach besser verstanden, in welchen Schubladen die Menschen denken,und haben ihre Produkte darauf eingestellt.
Gruß Frank
Edit: Du erwähnst häufig die hochwertigen japanischen Bandmaschinen - gerade hier sind die Deutschen über ihre mangelnde Fähigkeit gestolpert, den schönen Schein über die inneren Werte zu stellen. Wenn in Europa hochwertige Bandmaschinen genaut wurden, dann kam sowas wie die Revox A700 dabei raus - die war von innen schöner als von aussen. Die wenigen japanischen Bandmaschinen, die einer großen Revox technisch ebenbürtig waren, waren auch genauso teuer wie Revox, und genau wie diese nichts für den Massenmarkt. Es gab aber auch noch Maschinen, die vom Protzfaktor wie Revox oder besser waren, die man sich aber auch nur von vorne ansehen durfte. Und mit diesen "aussen hui, innen pfui" Bandmaschinen haben die Japaner Grundig und Co. den Garaus gemacht. Ich selber habe eine AKAI GX630 in Quadro Ausführung - wenn sie im Regal steht, ist es ein Traum, von hinten sieht sie aus wie einer dieser Billgtürme aus den achtzigern, und wenn man die Rückwand aus Presspappe abnimmt, fällt man vom Stuhl. Japanische Geräte aus dieser Zeit sehen von innen oft aus, als ob man die Technik einfach reingeworfen und den Deckel zugemacht hätte - aber welcher Käufer macht schon den Deckel von seinen Geräten ab. Spötter sagen noch heute, dass die protzigen Alufronten oft in der Herstellung teurer waren als der komplette Rest des Gerätes.
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